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Es gab eine Zeit, in der das erste, was ich tat, wenn ich den Browser öffnete, war, die Wikipedia-Seite von David Bowie aufzurufen und zu schauen, ob er noch am Leben ist. Es gibt eine Reihe von Persönlichkeiten, die ich sehr mag, die medial aber nicht sonderlich präsent sind, deren Einträge ich mehr oder weniger regelmäßig auf diese Okkurenz untersuche. Der Artikel zu Ian Holm gehört zum Beispiel dazu. Überflüssig zu erwähnen, daß diese Routine für David Bowie vor allem in der Zeit galt, als er nicht auffällig war. Das muss so um 2009 angefangen haben und, seien wir ehrlich, wenn es zu dieser Zeit passiert wäre, hätte es im Weltbild nur eine vielleicht mittelgroße Randnotiz dargestellt. Ah, der Typ mit der Herzattacke von vor ein paar Jahren ist tot. Schade. Naja, aber hat man ja eh nix mehr von gehört.
Vor circa zwei Jahren, mit der Ankündigung von The Next Day, hatte ich mit der Wikipedia-Sache aufgehört, weil die insgesamte Aufmerksamkeit ungleich größer wurde und, das ist der wichtigere Teil, die Wahrscheinlichkeit geringer schien. Am besten daran gefallen hat mir allerdings, daß ich nicht mehr jeden Tag das Foto am Kopf seiner Wikipedia-Seite sehen musste, was ich seit jeher nicht besonders leiden konnte und immer noch nicht kann.

Ich weiß noch sehr gut, wie ich im Sommer 2008 das erste Mal ein Album von David Bowie gehört habe. Rücklings auf dem verfluchten blauen Sofa meiner Eltern, das ich beim Umzug nach Osnabrück mitgenommen hatte und auf dem ich eigentlich gar nicht liegen konnte, weil die Sitzfläche dafür ein paar Zentimeter zu schmal und die Armlehnen viel zu hart und steil waren. Auf dem Kopf die billigen 20 EUR-Plastikkopfhörer von Sennheiser.
Reality. Das erste Hören memoriere ich sonst nur in zwei Fällen so genau. Das erste Beispiel heißt die ärzte. Jeder, der hier nicht zufällig vorbei stolpert, weiß um die Dimension, die sich daraus ergab. Das erste Hören zu erinnern, stellt demnach eine maßgebliche Richtungsweisung dar. Ich weiß es außerdem bei Nick Cave, weil sich in dieser Nacht zwei Nachbarn gegenseitig angeschrien haben und ich seitdem aus Aberglauben vermeide, Murder Ballads nachts zu hören.
Reality. Die Sonne schien. Nicht die übliche Tageszeit, zu der sich das Hören neuer Musik mittlerweile etabliert hat. Nicht der übliche Platz am Schreibtisch, der sich später in dieser Wohnung zum Musikhören durchsetzen sollte. Alles ganz anders als sonst. Warum? Weiß ich nicht. Eigentlich hatte ich keine besondere Ahnung davon, was mich erwarten würde, nachdem ich im damals noch existierenden jpc-Geschäft in Osnabrück diese graue Box für etwas über 30 EUR aus der Vitrine nehmen und abrechnen ließ. Ich wusste nicht einmal, was das überhaupt für eine Box ist (hoffentlich bloß kein Best of!). Dennoch wusste ich, daß das bedeutend sein würde. Dieser Laden war übrigens liebens- und hassenswert zugleich, denn ich habe dort einige meiner besten Käufe getätigt, konnte aber nie länger als – sagen wir – 20 Minuten verweilen, weil mich die an allen Wänden vorhandenen, großflächigen Spiegel wahnsinnig gemacht haben.
Reality. Ich fing ganz bewusst von hinten an. Das war lauter als ich erwartet hatte. Das war moderner als ich erwartet hatte. Never Get Old wurde neben dem Sigue Sigue Sputnik-Cover Love Missile F1-11 schnell mein Lieblingslied. And there’s never gonna be enough money / And there’s never gonna be enough drugs / And I’m never ever gonna get old. Das Album ist bis heute eine der ersten Nennungen, wenn es um die Bestimmung einer Rangliste geht. Station to Station, Hunky Dory und Low stünden ebenfalls ganz oben, wenn es darauf ankäme.
Reality. Am nächsten Tag ging es mit Heathen in der Zeitleiste langsam zurück. In den folgenden Tagen tastete ich mich bis Outside, welches ich bis heute beinahe noch weniger mag als Black Tie White Noise. Zu sperrig, zu unzugänglich, zu lang. Nichtsdestotrotz hat dieses Album dazu geführt, daß ich 2010 Get Well Soon kennen gelernt habe, weil die Bonus-CD des damals neuen Albums Vexations ein Cover von I’m Deranged enthält. In der Folge brauchte es – genau wie bei dieser anderen Band – nicht viel mehr als fünf Einkäufe, um David Bowie im Albumformat nahezu komplett in meinem Regal stehen zu haben. Das meiste stammt aus Second Hand-Läden und kleineren Plattenläden – noch so eine Besonderheit. Normalerweise kaufe ich nicht Second Hand, selten kaufe ich in kleinen Plattenläden. Warum es mich hier nicht gestört hat? Kann ich nicht sagen.
In den nächsten Jahren folgten einige Offenbarungen. Die Sorte, die dir sagt Oh. Aha. Ui. Das ist von dem? (Let’s Dance); vor allem aber die Sorte, die dir sagt Oh. Aha. Wow. Was ist das? Gibt es davon noch mehr? (Low). Für immer im Gulliver bleibt die Assoziation der Tradition, bei einer Zug- oder Autofahrt, die ein Ziel östlich von Sachsen-Anhalt hat, „Heroes“ und/oder Low zu hören. Und dann Life on Mars – kennen Sie das? Nein, nicht das Lied, das schreibt man mit einem Fragezeichen am Ende. Die Serie meine ich. Oder C.R.A.Z.Y.? Nein, nicht der Weichspülkekswichsfilm aus Deutschland, sondern das queere Selbstfindungsdrama aus Kanada. Oder Nikola Teslas Auftritt in The Prestige. Oder die Abspänne von Se7en und The Boat That Rocked. Oder Velvet Goldmine. Der Vergleich zwischen David Bowie und Philipp Glass in der ersten mündlichen Prüfung im Bachelorstudium. Dancing in the Street im letzten Semester. Oder oder oder. Das Kopfschütteln über eine deutsche DVD-Ausgabe von Der Mann der vom Himmel viel [sic]. All diese Dinge. Apropos Fernsehen:

Am vergangenen Sonntag lief Looper im Fernsehen (Handlung bitte googeln, falls unbekannt) und ich dachte darüber nach, was es mir bedeuten würde, wenn Bruce Willis stirbt. Ich gehe davon aus, jeder popkulturell überdurchschnittlich interessierte Mensch hat eine mehr oder weniger lange Liste von Menschen, deren Ableben irrationalerweise eine große individuelle Tragweite hätte. Wenn man nicht gerade beispielsweise eine Regelmäßigkeit in Verbindung mit Bob Dylans Never Ending Tour aufgebaut hat, hat das auf das eigene Leben allerdings keinen Einfluss. Meint man. Es ist nicht so, daß Bruce Willis besonders viel zu meiner Persönlichkeitsbildung beigesteuert hat oder einen herausragend signifikanten Anteil an regelmäßiger Lebensbegleitung darstellt, jedoch ist er in meiner Familie seit mindestens 20 Jahren der omnipräsente Liebling. Ich werde immer weinen, wenn Wir gewinnen, Gracie!, Weihnachten wird immer Die Hard-Zeit sein. Wenn ich Bruce Willis sehe, sehe ich darin immer einen Moment lang meinen Papa, Korben Dallas ist und bleibt der coolste Hund im Universum und vielleicht höre ich sogar eines Tages The Return of Bruno, nachdem es nun schon seit fast fünf Jahren in meinem Regal steht. Er ist eben da. Gewesen. Wird sein. Wenn Bruce Willis stirbt, legte ich mich fest, wird es mehr sein als das übliche Schade., das bei mir seit dem Tode Johnny Cashs, den ich ein bißchen beweint habe, die Standardreaktion auf Todesmeldungen bekannter Menschen ist. Ich habe den Gedanken jedenfalls gar nicht zu Ende gedacht, weil ich beschloss, daß dafür noch mindestens zehn Jahre Zeit bleiben wird. Und auch, weil ich ihn nicht zu Ende denken wollte.

Zehn Stunden später stehe ich auf und David Bowie ist tot. Es ist nicht Schade., es ist ein emotionales Erdbeben. Dieses für mich omnipräsente dünne, blasse role model ist in den vergangenen 7 1/2 Jahren mehr als nur da gewesen. Ist da. Wird sein. Aber jetzt: nichts. Im Grunde nicht viel anders als zuvor, denn niemand nimmt mir weg, was ich assoziieren, was ich hören, was ich sehen kann. Und doch fehlt etwas entscheidendes: die utopische Fantasie, daß es doch noch etwas werden könnte. Vielleicht doch noch dieses eine Konzert in New York oder London. Zu spät. Ich habe genau ein Jahr zu spät angefangen, zum Hurricane-Festival zu gehen. Oder ich bin einige Jahre zu spät geboren. Zu spät. Diese Fantasie ist verstummt. Für immer. Das schlimmste: ich höre sie immer noch schreien.

nein