Off!

Am Wochenende war ich zu einem Klassentreffen eingeladen anlässlich der Tatsache, daß ich vor beinahe 10 Jahren zeitgleich mit zahlreichen anderen, mir damals schon mehr schlecht als recht bekannten Menschen, mein Abitur mehr schlecht als recht bestanden habe. Das – beide genannten Ereignisse – war aus mehrerlei Gründen im Großen und Ganzen ein für mich eher obsoletes Zusammenkommen. Zum einen habe ich eine generelle Abneigung gegen soziale Okkasionen mit mehr als fünf Beteiligten, weil jede darüber hinausgehende Anhäufung von Menschen dazu führt, daß zum einen wild durcheinander geredet wird und zum anderen kein wirklich sinnvolles Gespräch entstehen kann. Multiplizieren Sie das mit sechs und Sie haben ungefähr die Menge der Personen, die am Samstag anwesend war und miteinander versuchte Gespräche zu führen. Zum anderen hatte ich mit den meisten schon vor zehn Jahren kaum etwas zu bereden. Mein Interesse hielt sich wenig überraschend nach wie vor in Grenzen, so wie es sich gegenüber fremden Leben eben schon immer in Grenzen hält. Dazu muss vielleicht gesagt werden, daß ich aus einer sehr tratschlastigen Sozialisation entstamme. Eine Kleinstadt hat es so an sich, daß jeder jeden meint zu kennen und daß jeder meint, über jeden eine Meinung haben und vermitteln zu müssen. In diese Richtung schlugen folgerichtig auch die Gespräche. Mir missfiel das schon immer. Gespräche, die sich im Wesentlichen um folgende Themen drehten: aktueller Berufsstatus, aktuelle Anzahl der Kinder, aktueller Status der Partnerschaft. Kein was war, kein was kommt, nur das was ist. Vor allem kein: was sonst? „Und was machst du so?“ – „Ich mache gerade meinen Master.“ – „Waaas, du studierst noch?“ Erstens: ja, na und? Zweitens: vielleicht ist mir aber auch ein Luchs über den Zeigezeh gelaufen und ich konnte vier Jahre nicht das Bett verlassen. Vielleicht kann es dir aber auch komplett egal sein, daß ich noch studiere, weil du ja schließlich nur wissen wolltest, was ich mache und nicht warum oder seit wann – und erst recht nicht, ob und was was ich davor gemacht habe und vor allem: worüber ich mich selbst definiere. Ich hielt es für ein Klischee, nun darf ich es ein Stereotyp nennen: Klassentreffen sind unfassbar oberflächlich. Tinder sieht daneben aus wie der Mariannengraben. Ein paar Mal habe ich versucht, mit ein paar Spitzen etwas Tiefe zu gewinnen, aber ich hatte den Eindruck, mit dem Verlangen relativ allein dazustehen. Willkommen zurück Schulzeit. Schlimmer als Verwandtschaft sind eigentlich nur Klassenkameraden. Die kann man sich nicht nur nicht aussuchen, sie sind auch Experten in passiver Repression. Das einsam in der Menge rumstehen jedenfalls hat sich in zehn Jahren keineswegs geändert. Da ich weder bei mir noch bei anderen ein gesteigertes Interesse an anderen oder mir feststellen konnte, verschwand ich zügigst nach der ebenfalls oberflächlichen, aber immerhin ganz interessanten Schulführung und widmete mich Ereignissen, deren Verlauf und Gesellschaft ich selbst bestimmen konnte. Ein paar positive Erkenntnisse gab es immerhin: offenbar werden Menschen mit der Zeit oberflächlich freundlicher, vielleicht vergessen sie aber auch nur, wie asozial und überheblich sie sich in der Vergangenheit verhalten haben.
Nicht zuletzt sind mir jedoch One-Off-Momente absolut zuwider – geplante, meist zumindest für lange Zeit als einmalig anzunehmende Ereignisse, die der Möglichkeit einer zeitnahen Wiederholbarkeit entbehren. Es ist so: entweder es liegt eine überhöhte Erwartungshaltung vor, die nur enttäuscht werden kann oder es fehlt einfach die Lust, man muss aber gehen, weil es nur eine Chance gibt. In diesem Fall wurde es mit nahendem Eintreffen des Ereignisses ungefähr ein 30:70-Verhältnis. Glücklicherweise hatte ich weit mehr als zehn Jahre lang Zeit, die Unauffälligkeit zu perfektionieren und war unversehens das, was ich im Internet seit einiger Zeit wieder versuche zu sein: off.

 

Ein Gedanke zu „Off!

  1. Um tiefgründigere Gespräche zu bekommen hätte man wohl länger als ne Stunde on bleiben müssen … nach vielen Jahren mit Smalltalk zu beginnen ist weder ungewöhnlich noch verwerflich

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