Nun, wer hat schon gerne Nachbarn? Seien wir ehrlich: die meisten hätten vermutlich lieber keine. Aber wenn man schon welche hat, dann ist es immerhin total egal, wo sie herkommen oder was sie machen – solange sie verdammt nochmal nicht auffallen. Während einer W- oder EM kann man wegen einiger nicht übersehbarer Auffälligkeiten wunderbar darüber spekulieren, welche Nachbarn wohl lieber andere Nachbarn hätten und – ach so, es geht übrigens um eine Fußball-W- oder -EM. Daß man das sicher nicht dazu sagen müsste, sagt einiges über die Differenzierungsfähigkeit dieser Sportart im Gesamten und ihrer Gefolgschaft im Detail aus. Immerhin ist deutlich zu erkennen, daß Deutschland seit einiger Zeit abflaggt, so wie es Die Zeit vor einigen Tagen beschrieben hat. Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Nur: warum eigentlich? Das Problem, und der Grund dafür, das grundsätzlich nur begrüßen zu können, ist, daß in Nationalmannschaftsbegegnungen eben genau dieses Wort steckt: National. Aber auch: Mannschaft. Letztlich ist es nicht die Nation, die einen Titel erlangt, sondern die Mannschaft. Es ist nicht das wir, es ist das die (schmeckst du es?). Natürlich kann man sich für etwas begeistern, natürlich darf eine Rivalität entstehen, die auf der gemäßigten Diffamierung des Gegners basiert. Nur eben: des Gegners, nicht dessen Nation. Den allgemeinen Regeln des – leider nicht überall ausgeprägten und darum der Wortherkunft lange nicht entsprechendem – common sense folgend. Natürlich kann ich einen Sportler oder ein Kollektiv besser finden als ein anderes. Aber eben nur als solches, nichts darüber hinaus. Alles andere ist gesondert zu bewerten. Vor allem ist eine Fangruppe eben nicht Teil der Mannschaft, so sehr dieser romantisch angehauchte Gedanke auch immer wieder ausgereizt wird. Folglich gewinnen auch nicht die Deutschen, die Russen oder die Franzosen, nein, es gewinnt die Mannschaft eines dieser Länder. Meinetwegen gewinnt gerne Die Mannschaft oder die Équipe Tricolore, aber niemals spielen die Engländer gegen die Waliser und vor allem spielen niemals: wir. Wer dazwischen nicht unterscheiden kann, denkt nationalistisch. Generell ist dies ein Fußballproblem. Warum? Weil Fußball ein Massenphänomen ist, das meint, die Mehrheit zu repräsentieren (und sehr wahrscheinlich ist das sogar so). Weil es ein simpler Sport ist, der spannend sein kann und auf den ersten Blick nicht viel Intellekt fordert (Menschen mit etwas Sachverstand werden hier zurecht die Haare raufen). Schon Goebbels kannte den Trick, die Gesellschaft am dümmsten Punkt zu packen (wenigstens 1x die Hitler-Keule). Vor allem, weil eine Mannschaftssportart einem nicht zu verachtenden Teil des Publikums offenbar in der Lage ist zu suggerieren, ein wie auch immer gearteter Teil des Erfolges zu sein – ein für mich nicht nachvollziehbarer Umstand. Vor allem ist es aber auch ein Fußballproblem, weil Fußball als eine von wenigen Sportarten ein Gewaltproblem hat, das mit der Beflaggung in mindestens rudimentärem Zusammenhang steht, weil sich unter vielen Flaggenträgern nicht zu zählende befinden, die ihren Nationalismus in Gewalt formulieren, was mittelbar zu einer Einschüchterung von Mitgliedern anderer Nationalitäten führt oder führen kann – und letztlich zur genauen Umkehr dessen, was dieser sogenannte „Party-Patriotismus“ dem Namen nach erreichen möchte, nämlich eine Party.
Niemand würde auf die Idee kommen, der Goldmedaille eines Ruderachters zu attestieren, daß wir als erste im Ziel waren. Noch weniger würde eine weitere Weltmeisterschaft Sebastian Vettels auch nur in die Nähe einer wir-Idee kommen. Wir, das ist im Fankontext eben diese Gruppe der Fans. Nicht mehr. Es ist ein Fußballproblem, zwischen dem die und dem wir nicht differenzieren zu können. Und es ist ein Fußballproblem, das mit einer Vollbeflaggung ausdrücken zu wollen. Wenige würden auf die Idee kommen, während einer Eishockey- oder Handball-E- oder -WM einen gesetzeswidrigen Seitenspiegelüberzug zu benutzen, Klopapier mit der deutschen Fahne drauf zu produzieren, den Supermarkt zu beflaggen. Nicht einmal zur Bundestagswahl würde das passieren. Niemand beschwert sich, wenn beim Skisprung in Garmisch eine deutsche Flagge für Sven Hannawald weht. Nur – Achtung, quer denken -: es ist sinnlos, seine Zuneigung zu einer Band auf dem Konzert jener Band mit einem T-Shirt gleicher Band zu bekunden – jeder weiß oder mutmaßt zumindest, daß du diese Band magst, sonst wärst du nicht hier. Fußball lebt auch in diesem Punkt völlig abseits der Verhältnismäßigkeit. Es ist okay, am Ort des Geschehens oder beim Public Viewing seine Zugehörigkeit zu deklarieren, gerne übermäßig, solange es niemanden behindert. Es ist auch okay, während eines Wettbewerbs in Spanien eine deutsche Flagge zu hissen, um zu zeigen, daß man von dort aus Die Mannschaft unterstützt (obwohl das, streng betrachtet, durchaus an Imperialismus grenzen kann). Deutsche Flaggen auf deutschem Staatsgebiet abseits lokaler oder zeitlicher Zusammenhänge als angebliches Zeichen fußballerischer Zuneigung sind jedenfalls kein Zeichen sportlicher Solidarität – sie sind ein Zeichen von Nationalismus. Wie kann man denn seine Sympathie gegenüber eines Teams optisch eindeutig bekunden, wenn nicht durch eine Flagge des Landes? Mit einer Flagge im richtigen Kontext. Eine Alternative zu diesem Medium ist zwar wünschenswert, aber nicht zwingend nötig. Deutlich zu erkennen ist nämlich auch, daß es zumindest in Europa nur in Deutschland ein Problem mit dem eigenen Verständnis von Nation und damit zwangsläufig mit der eigenen Flagge zu geben scheint – und das angesichts der Vergangenheit völlig zu recht. Ich halte es jedoch für eine völlig okaye Entscheidung, sich im Rahmen eines internationalen Wettkampfs mit einer Flagge ausweisen zu wollen. Trikots sind unendlich teuer und nicht immer unverwechselbar.
Zu sagen, die Unterstützung einer Nationalmannschaft sei grundsätzlich Nationalismus, halte ich allerdings für Quatsch. Wenn dem so wäre, wäre folgerichtig jegliches Fantum bezüglich Bundesligavereinen Nationalismus im Kleinen, namentlich Regionalismus. Selbstverständlich gibt es auch da Ansatzpunkte, denn daß ein Anhänger der Dortmunder Borussia allein wegen seiner Herkunft oder Präferenz besser oder schlechter als jemand aus einem oder für einen anderen Ort des Ruhrgebiets sein soll, kann der Rivalitäts erste Wahl in der Argumentation nicht sein. Aber auch das ist ja natürlich im Grunde gar nicht so gemeint und ja eigentlich nur Spaß, denn, wenn man ehrlich ist und mal genauer überlegt, könne man ja gar nichts Negatives über solche Leute sagen. Ihr Ficker. Natürlich nicht. Es gibt bessere Sportler und es gibt schlechtere Sportler. Und dann gibt es einen Publikumsanteil, der in der Wahl seiner Favoriten glücklich war und den, der sich bewusst oder aus Versehen für ein augenscheinlich schwächeres Produkt entschieden hat. Wichtig zur Differenzierung und zur klaren Abgrenzung zum Natio- oder Regionalismus ist der Mechanismus der Entscheidung. Erst wenn ich mich bewusst für oder wider etwas entschieden habe, kann ich auch nur einen Ansatz von Stolz oder Identität entwickeln, eben weil ich erst dann selbst gehandelt habe und nicht bloß irgendeiner mir nicht anzurechnenden Zuordnung gefolgt bin. Es ist so wie: sich am eigenen Geburtstag feiern lassen, obwohl man selbst den geringsten Anteil daran hatte. Die schlimmste Entscheidung ist gar keine Entscheidung. Die schlimmste Begeisterung ist die des Mitlaufens. Nicht deine Entscheidung, nicht deine Leistung, nicht deine Party.
Übrigens: es gibt auch Flaggen der einzelnen Verbände, wie wär’s denn mal damit?
P.S.: Der Aufruf der Antifa, für geklaute Fanartikel Punkte zu verteilen, ist im Hinblick auf die unreflektierte Nationalismusgefahr natürlich überaus löblich, verfehlt das grundsätzliche Problem aber massiv, weil es in den Köpfen steckt, die darauf, darum oder darunter zu finden sind.
Und was wohl über unseren Balkon spekuliert wird? Ob das wohl Inselaffen sind? Ob die betrunken prügeln würden? Und wie halten die es wohl mit Brexit? Nö, die finden einfach nur eine Mannschaft gut, die sie sich irgendwann als Teil einer Rebellionsidee ausgesucht haben. Und die lachen ein bißchen, wenn wir schon wieder in der Vorrunde ausscheiden sollten.
Mehr? Googeln Sie Nationalismus Fußball.